Die Kunst Chemiker:in und Buchautor:in zu sein

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Zwanzig Jahre ist es her, dass Professor Konrad Hungerbühler sein Buch „Chemische Produkte und Prozesse“ publizierte. Nun hat er mit Justin Boucher, Martin Scheringer und zwei ETH Alumni eine englische Version geschrieben („Chemical Products and Processes“), die mehr ist als die Neuauflage eines einzigartigen, interdisziplinären Werks für nachhaltige Chemie. Hier erzählen die Autoren, was sich seit 1999 verändert hat und was Forschende erwartet, die ihr Wissen in ein Buchformat bringen wollen.

Kurz vor der Coronakrise entlarvte Marc Ruffalo auf der Kinoleinwand einen US-Chemiekonzern, der verantwortungslos mit gefährlichen Verbindungen wie Perfluoroctansäure (PFOA) umgegangen war und die Einwohner ebenso wie die Umwelt schwer geschädigt hatte. „Dark Waters“, basierend auf einem wahren Fall am Ohio River, benennt damit ein nach wie vor aktuelles Problem: Die schädlichen Auswirkungen der global eingesetzten Per- und Polyfluoralkylsubstanzen (PFAS). Zugleich verdeutlicht der Film aber auch die Wichtigkeit, chemische Produkte und Prozesse umweltbewusst zu gestalten und Risiken gut abzuwägen. Das eben bei Springer erschienene Buch „Chemical Products and Processes“ – eine Neufassung der deutschen Ausgabe von 1999 auf Englisch – soll Studierende und Forschende diverser Disziplinen sowie Firmen künftig dabei unterstützen. „Vor allem, da die weltweite Chemieproduktion zunimmt“, betonen die Hauptautoren Prof. em. Konrad Hungerbühler und Justin Boucher. Damit wurde ein besonderes Standardwerk geschaffen, doch der Weg dahin war steinig.

Screenshot Offizieller Trailer "Dark Waters" auf Youtube.
Screenshot Trailer "Dark Waters" auf Youtube. Durch den rücksichtslosen Umgang einer Firma mit PFOA wurde das Trinkwasser kontaminiert - mit gravierenden Folgen für Mensch, Tier und Umwelt. 

Aus der Vergangenheit lernen und darauf aufbauen

Zunächst waren schon die Umstände, die zur ersten Fassung des Buches führten, abenteuerlich. „Bei einem Großbrand der Firma Sandoz Mitte der 80er gelangten tonnenweise hochgiftige Stoffe in den Rhein. Die Fische starben bis an die holländische Grenze“, erinnert sich Hungerbühler, „und die Luft war so schlecht, dass sich die Leute schützen mussten.“ Die Katastrophe führte zu einem Umdenken in der Industrie ebenso wie in der Politik und infolgedessen zur Etablierung einer ETH-Professur für Sicherheits- und Umweltschutztechnologie in der Chemie, auf die Hungerbühler 1994 berufen wurde. Wenige Jahre später publizierte er die erste Fassung von „Chemische Produkte und Prozesse“.

„Allerdings“, so erinnert sich Hungerbühler, „fand die Entwicklung des Buches in einer Zeit statt, in der man sich viel mehr auf die Prozesse zur Herstellung chemischer Produkte konzentrierte, anstatt auf die Produktqualität.“ Heute bekannte Methoden wie Life-Cycle-Assessments (LCA), also Analysen der Umweltauswirkungen von Produkten über ihren ganzen Lebensweg, standen damals Ende der 90er noch am Anfang. Man habe noch nicht über das Wissen verfügt, um all dies fundiert darzustellen, meint Hungerbühler. „Unsere Neufassung ist daher ein grosser Fortschritt, um die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse und Methoden zu dokumentieren. Wir weisen auf häufige Probleme in der chemischen Entwicklung sowie Produktion hin und präsentieren Lösungsansätze.“

Prof. Konrad Hungerbühler
Prof. em. Konrad Hungerbühler (ICB / D-CHAB), Autor der ersten Buchfassung von "Chemische Produkte und Prozesse" sowie einer der Hauptautoren bei der überarbeiten Fassung (Foto: ETH Zürich). 

Gratwanderung und Herausforderung

Leicht war dieses Vorhaben nicht. „Die Neufassung sollte die Entwicklungen der letzten 20 Jahre widerspiegeln, inklusive aller Vorlesungsskripte und Studien, die von unserer und vielen anderen Forschungsgruppen weltweit durchgeführt worden sind. Aber seit dem ersten Buch ist so viel passiert, beispielsweise wurden die LCA stark ausgebaut“, schildert Justin Boucher, ein früheres Mitglied von Konrad Hungerbühlers Gruppe und verantwortlich für die Neukonzeption des Buches. Es sei enorm herausfordernd gewesen, dies alles zu einem neuen Text zusammenzufügen und das auf weniger als 350 Seiten. Ziel war es, den Leser:innen einen handlichen Überblick zu bieten. „Soweit wir wissen, gibt es kein anderes Lehrbuch auf dem Markt, das eine so breite Basis zum Thema bietet und sowohl die chemische Prozessseite als auch die Produktseite abdeckt.“

Um das zu erreichen, mussten die Autoren alles durchgehen, Teile überarbeiten, andere ganz neu schreiben – etwa den rechtlichen Teil. „Erschwerend kam hinzu, dass es sich um Themen handelte, die eigentlich aus unterschiedlichen Disziplinen stammen“, sagt Boucher. Zudem spiele man während des Schreibprozesses immer gegen die Zeit: „Braucht man zu lange, riskiert man, dass die Inhalte nicht mehr aktuell sind.“ Ausserdem sei man an die Vorgaben des Verlags gebunden und auch die Finanzierungsfrage spiele eine grosse Rolle.

Guiding Principles explained in the book "The book "Chemical Products and Processes"
Leitprinzipien, die im Buch "Chemische Produkte und Prozesse" eine wichtige Rolle spielen. Cover-Illustration. (Visualisierung: Justin Boucher / Springer)

Letztlich ist nach drei Jahren doch ein aktuelles, handliches Lehrwerk entstanden, das sich der Philosophie und Motivation hinter der Chemie-Sicherheit genauso widmet wie den Risiken, Regulatorien und realen Fallbeispielen, etwa von Syngenta. Letzteres war eine Gratwanderung, wie Hungerbühler ergänzt. Will man neben der Prozessseite auch die Produktseite schildern, erfordere das viel rechtliche Abklärung mit der Industrie und ein hohes Mass an Vertrauen.

Bücher schreiben als Wissenschaftler:in?

Dass das Buch nun erschienen ist, freut die Autoren. „Es ist auch eine Erleichterung“, meint Boucher, „ein Buch ist mehr Arbeit als man glaubt.“ Coautor Martin Scheringer, früher Mitglied in Hungerbühlers Gruppe und nun Senior Scientist sowie Gruppenleiter am D USYS der ETH Zürich, kann dem nur zustimmen: „Es ist enorm kräftezehrend. Gerade in der Forschung hat man nie genug Zeit daran zu arbeiten, weil man so in den hektischen Wissenschaftsbetrieb eingespannt ist, dass man den Fokus gar nicht findet.“ Ausserdem sollte man erst dann an ein Buch denken, wenn man es mit dem eigenen Knowhow füllen kann, ergänzt Hungerbühler. In dem Fall können Bücher einen wertvollen Beitrag leisten. Jungen Forschenden rät er es nicht: „Bücher zählen nicht für Publikationslisten.“ Zudem falle der Verdienst relativ zum Aufwand meist knapp aus, wie Boucher ergänzt.

Prof. Hungerbühlers Gruppe 2015
Prof. Hungerbühler und seine Gruppe 2015

„Insgesamt denke ich, dass wir ein anderes, stärker institutionell unterstütztes und breiteres Open-Access-Publikationssystem fördern sollten. Das sollte Forschern an Universitäten zur Verfügung stehen, um Lehrmaterial wie Bücher und Online-Kurse zu entwickeln. Der Publikationsprozess kann eine Herausforderung sein, und es gab viele Schwierigkeiten, die wir wahrscheinlich hätten vermeiden können, wenn wir von Anfang an besser vorbereitet gewesen wären", ist Boucher überzeugt.

Warum also noch Bücherschreiben? Am Ende geschieht es aus Überzeugung, Liebe zur Forschung, wie es Hungerbühler ausdrückt, und eigenem Antrieb heraus. Im Falle von „Chemical Products and Processes“ besteht selbiger laut den Autoren darin, die Inhalte des Buches nun möglichst vielen Leuten zugänglich zu machen – auf dass es Forschende, Ingenieur:innen und politische Entscheidungsträger:innen zu einer umweltfreundlichen, sicheren Chemie inspirieren möge, damit sich Katastrophen wie einst am Rhein oder an den „Dark Waters“ des Ohio Rivers künftig nicht mehr wiederholen.

The book Chemical Products and Processes

“Chemical Products and Processes – Foundations of Environmentally Oriented Design” ist für Mitglieder der ETH Zürich und anderen Universitäten frei downloadbar - entweder über die externe Seite Verlagswebsite oder über externe Seite Swisscovery.

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